Abriss Kurfürstenstraße 75 (I): Mieter*innen schützen, Bebauungsplan anpassen

Die Bezirksverordnetenversammlung möge beschließen:

 

Das Bezirksamt wird ersucht, für das Gebiet Kurfürstenstraße 75, Landgrafenstrafe 1-6 und Wichmannstraße 23-24 einen Bebauungsplan aufzustellen, der das Gebiet als Mischgebiet (MI) ausweist und mindestens Art und Maß der baulichen Nutzung festsetzt. Nach Aufstellung des neuen Bebauungsplanes ist der Bebauungsplan II-83 aufzuheben.

 

Begründung:

 

Die Grundstücke Kurfürstenstraße 75, Landgrafenstrafe 1-6 und Wichmannstraße 23 liegen im Gebiet des 1969 festgesetzten Bebauungsplangebietes II-83 (Anm.: Wichmannstraße 24 lag nicht im Bebauungsplangebiet).

Anlass für die Aufstellung des Bebauungsplanes II-83 war die Absicht der Hotel Hamburg G.m.b.H. & Co. KG., das in ihrem Eigentum befindliche Grundstück Landgrafenstraße 3-6 Ecke Wichmannstraße 23 mit Wohnbauten und einem Hotel, sowie der Constanze-Verwaltungs- und Druck G.m.b.H., das Grundstück Kurfürstenstraße 72-74 Ecke Schillstraße 11-12 mit einem Wohn- und Geschäftshaus zu bebauen. Der Bebauungsplan sollte auf den genannten Grundstücken den neu geschaffenen städtebaulichen Zustand sichern und für das übrige Bauland ebenfalls Art und Maß der baulichen Nutzung festsetzen.

Der eigentliche Ursprungsanlass ist in großen Teilen durch die Festsetzung des Bebauungsplanes II-83-1VE, der sich auf die Grundstücke Kurfürstenstraße 72-74/Schillstraße 11-12 bezieht, obsolet.

In dem damals festgesetzten Gebiet lagen auch die Grundstücke Kurfürstenstraße 72-74/Schillstraße 11-12, für die inzwischen jedoch eine eigener Bebauungsplan II-83-1VE festgesetzt wurde (BVV-Beschluss 16.09.2021). Diese Grundstücke können also für die weitere Betrachtung des Sachverhaltes unberücksichtigt bleiben.

Weiterhin wichtig ist jedoch eine Festsetzung von Art und Maß der baulichen Nutzung für die anderen Grundstücke.

 

Es ist wohl davon auszugehen, dass die Kurfürstenstraße 75 nur der Beginn eines ‚Wohnraumvernichtungsdominos‘ im Kurfürsten-Landgrafen-Wichmann-Block sein wird.

Das Bezirksamt ist daher angehalten, alle möglichen Mittel des Bezirkes zu ergreifen, die den Abriss bezahlbarer Wohnungen verhindern könnten, oder zumindestens erschweren, so dass die Mieter*innen keine weiteren Opfer des ‚Betongolds‘ in Mitte werden. Ein Baustein für einen solchen Versuch soll die hier beantragte Änderung des Planungsrechtes sein.

Sollte nun der Einwand geltend gemacht werden, dass mit dem Antrag ein unzulässiger ‚Verhinderungsbebauungsplan‘ gefordert wird, so sei darauf verwiesen, dass der aktuelle Bebauungsplan II-83 in keiner Weise die vorhandenen Grundstücksnutzungen im Block abbildet, sondern eher eine Mischgebietsfestsetzung dem Bestand Rechnung trägt. Die Beibehaltung eines alten Planungsrechtes, das die Bestandsnutzung nur ungenügend berücksichtigt, kann - insbesondere vor dem Hintergrund, dass seit 1969 nicht nur eine Mauer gefallen ist, sondern sich auch die Erde und die Wohnungsnot in Berlin weitergedreht hat - jedoch nicht im Interesse des Bezirkes Mitte sein.

 

Weitere Informationen:

 

Die im Antrag beschriebenen Grundstücke sind aktuell wie folgt genutzt:

 

Grundstück

Bekannte aktuelle Nutzung nach Augenschein

derzeit Anzahl Wohnungen

Bekannte Planung

Kurfürstenstraße 75

Wohnbebauung mit gewerblichen Anteilen

25 WE, zu großen Teilen bewohnt

Abriss und Neubau Gewerbe- und Wohnhaus

Landgrafenstrafe 1-2:

Keine Bebauung

 

Nicht bekannt

Landgrafenstrafe 3-4:

Büroprojekt „Equalizer“ (in Bau) https://equalizer.berlin/

 

Errichtung eines Bürogebäudes mit Tiefgarage mit 70 PKW-Stellplätzen

Landgrafenstrafe 5-6

Wohnbebauung mit gewerblichen Anteilen

ca. 27 WE nach Klingelschildern, scheinbar zu großen Teilen bewohnt

Aufstockung Wohnbebauung für Projekt „Equalizer“

Wichmannstraße 23

Wohnbebauung mit gewerblichen Anteilen

ca. 30 WE nach Klingelschildern, scheinbar zu großen Teilen bewohnt

Abriss Wohn- und Hotelgebäude und Neubau Bürogebäude sowie Wohnaufstockung

Wichmannstraße 24

Wohnbebauung mit gewerblichen Anteilen

ca. 42 WE nach Klingelschildern, scheinbar zu großen Teilen bewohnt

Nicht bekannt

 

Der 1969er Bebauungsplan II-83 legt das Gebiet als „Kerngebiet“ fest. Bezüglich der Zulässigkeit von „Wohnen“ heißt es dazu in § 7 Baunutzungsverordnung (BauNVO):

 

„(1) Kerngebiete dienen vorwiegend der Unterbringung von Handelsbetrieben sowie der zentralen Einrichtungen der Wirtschaft, der Verwaltung und der Kultur.

(2) Zulässig sind …

6. Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie für Betriebsinhaber und Betriebsleiter,

7. sonstige Wohnungen nach Maßgabe von Festsetzungen des Bebauungsplans.

(3) Ausnahmsweise können zugelassen werden ….

2. Wohnungen, die nicht unter Absatz 2 Nummer 6 und 7 fallen.

(4) Für Teile eines Kerngebiets kann, wenn besondere städtebauliche Gründe dies rechtfertigen (§ 9 Absatz 3 des Baugesetzbuchs), festgesetzt werden, dass

1. oberhalb eines im Bebauungsplan bestimmten Geschosses nur Wohnungen zulässig sind oder

2. in Gebäuden ein im Bebauungsplan bestimmter Anteil der zulässigen Geschossfläche oder eine bestimmte Größe der Geschossfläche für Wohnungen zu verwenden ist.

Dies gilt auch, wenn durch solche Festsetzungen dieser Teil des Kerngebiets nicht vorwiegend der Unterbringung von Handelsbetrieben sowie der zentralen Einrichtungen der Wirtschaft, der Verwaltung und der Kultur dient.“

 

Da im 1969er Bebauungsplan keine Regelungen bezüglich der §§7, Abs. 2, Ziffer 7 und Abs. 4 getroffen wurden, sind Wohnnutzungen somit nur „ausnahmsweise zulässig“, wenn dies von Eigentümern/Investoren beantragt wird.

 

Bisher bekannte Antragslage:

 

Grundstück

Antrag

Maßnahme

Kurfürstenstraße 75

Antrag Bauvorbescheid: 05.07.2023

Genehmigung Bauvorbescheid: 30.08.2023

Errichtung - Abriss Geschäftsgebäude mit Wohnanteil und Neubau eines Bürogebäudes mit Wohnnutzung

Landgrafenstrafe 1-2:

Nicht bekannt

 

Landgrafenstrafe 3-4:

Bauantrag: 22.12.2022

Baugenehmigung: 07.08.2023

Errichtung eines Bürogebäudes mit Tiefgarage mit 70 PKW-Stellplätzen

Landgrafenstrafe 5-6

 

Anm.: Gehört vermutlich zur Maßnahme Wichmannstraße 23, identischer Eigentümer

Wichmannstraße 23

Antrag Bauvorbescheid: 23.03.2022

Genehmigung Bauvorbescheid: 13.06.2022

Abriss Wohn- und Hotelgebäudes und Neubau Bürogebäude sowie Wohnaufstockung

Anm.: Eigentümer wie Landgrafenstraße 3-6

Wichmannstraße 24

Nicht bekannt

 

 

Wie der Antragslage und den Anschreiben an die Mieter*innen zu entnehmen ist, ist der Abriss von bewohnten Wohngebäuden – entweder vollständig oder teilweise – bereits von Eigentümer*innen beabsichtigt.

 

Problem 1:

 

Da das Wohnen in einem Kerngebiet nur ausnahmsweise zulässig ist, müssen Eigentümer*innen keine Wohnanteile in den Neubebauungen berücksichtigen.

 

Problem 2:

 

Vor dem Hintergrund der rechtlichen Auffassung des Bezirksamtes Mitte, dass im ‚Beschränkten Arbeitsgebiet‘ (vergl. Thematik Tegeler/Fennstraße) das Zweckentfremdungsrecht nicht anwendbar ist, da das Wohnen dort eigentlich baurechtlich nicht zulässig ist, muss aktuell davon ausgegangen werden, dass diese Rechtsauffassung auch auf Wohngebäude im ‚Kerngebiet‘ übertragbar ist (vergl. identische bzw. ähnlich lautende Regelungen BauNVO). Eigentümer*innen müssen         somit beim Abriss von Wohnungen keine Ersatzwohnungen nach Zweckenfremdungsverbot-Gesetz errichten. Dem Bezirk ginge damit eine Vielzahl von Wohnraum verloren.

 

Zur Kurfürstenstraße 75:

 

Das sechsgeschossige Gebäude wurde 1972 erbaut. Im Erdgeschoss befindet sich ein Supermarkt, das 1.OG beherbergt Büroräume. Ein Großteil der Mieter*innen wohnt seit vielen Jahren, einige seit Jahrzehnten dort. Die Eigentümer*in beabsichtigt das in großen Teilen bewohnte Gebäude mit 25 bezahlbaren Wohnungen abzureißen. Es ist zu vermuten, dass es interne Absprachen mit dem Investor der angrenzenden Grundstücke Landgrafenstrafe 3-6/Wichmannstraße 23 gibt, dass dieser das Grundstück übernehmen würde, wenn die Entmietung der Wohnungen sichergestellt ist.

Die Mieter*innen haben von ihrem Vermieter im April 2024 den ‚freundlichen Hinweis‘ bekommen, sich wegen des bevorstehenden Abrisses neue Wohnungen zu suchen. In dem Schreiben heißt es u.a. (Hinweis: Hervorhebungen vom Antragsverfasser): „Bereits seit einigen Jahren sind die Nachbargrundstücke der Kurfürstenstraße 75 Gegenstand umfangreicher baulicher Entwicklungsmaßnahmen. Von diesen Veränderungen und auch Einschränkungen sind Sie als Mieter, aber wir auch als Vermieter betroffen. Als Eigentümer der Kurfürstenstraße 75 mussten wir nunmehr erkennen, dass der rasche und umfangreiche Fortgang der Baumaßnahmen in unserer Nachbarschaft dazu führt, dass sich unser Gebäude langfristig nicht mehr in die Umgebung eingliedert und auch Nachteile für die Mieter zu befürchten sind.

Der Verlust der Wohnraumqualität geht mit einer deutlichen Entwertung unseres Grundstücks einher, wenn wir an dem Bestand des Gebäudes festhalten und uns nicht der baulichen Entwicklung anschließen. Wir haben uns daher entschlossen, es unseren Nachbarn gleich zu tun und unser Grundstück ebenfalls baulich zu entwickeln zu lassen.

Durch die Neubebauung sollen bezahlbare Wohnungen in der Mitte der Stadt entstehen, die jedoch den heutigen Wohnwertverhältnissen entsprechen. Wir werden selbst diese Baumaßnahmen nicht veranlassen, sondern haben uns mit einem Investor, DIE Deutsche Immobilien und Entwicklungs AG, zusammengeschlossen, der bereits das benachbarte Grundstück der Landgrafenstraße entwickelt. Da eine Sanierung im Bestand jedoch diesem Ziel insbesondere der Nachhaltigkeit der Wohnungen nicht gerecht werden kann, wird das Gebäude abgerissen und ein neues Wohn- und Geschäftsgebäude errichtet.

Kurz darauf meldete sich dann eine „LxS Immobilien GmbH“, die als Dienstleister der Investoren anbot die Optionen für den Auszug zu besprechen. Im Ergebnis haben sich einige Mieter*innen aus Angst vor dem drohenden Wohnungsverlust bereits ‚rauskaufen‘ lassen. Weder gab es Angebote für Ersatzwohnungen noch ist davon auszugehen, dass es in Zukunft Angebote für bezahlbaren Wohnraum im Umfeld geben wird.