Abriss Kurfürstenstraße 75 (II): Anwendung Zweckentfremdungsrecht in Kerngebieten
Die Bezirksverordnetenversammlung möge beschließen:
Das Bezirksamt wird ersucht, durch ein extern beauftragtes Gutachten rechtlich prüfen zu lassen, ob und wie das Berliner Zweckentfremdungsverbot-Gesetz bzw. die Berliner Zweckentfremdungsverbot-Verordnung für Wohngebäude in Kerngebieten gemäß § 7 Baunutzungsverordnung (BauNVO) und/oder diesbezüglichen Festsetzungen in Bebauungsplänen – wie im Fall der Grundstücke Kurfürstenstraße 75, Landgrafenstrafe 1-6 und Wichmannstraße 23 im Geltungsbereich des Bebauungsplanes II-83 – zur Anwendung kommt.
Begründung:
Die Grundstücke Kurfürstenstraße 75, Landgrafenstraße 1-6 und Wichmannstraße 23 liegen im Gebiet des 1969 festgesetzten Bebauungsplangebietes II-83 hat. Der Bebauungsplan legt das Gebiet als „Kerngebiet“ fest. Bezüglich der Zulässigkeit von Wohnen heißt es dazu in § 7 Baunutzungsverordnung (BauNVO):
„(1) Kerngebiete dienen vorwiegend der Unterbringung von Handelsbetrieben sowie der zentralen Einrichtungen der Wirtschaft, der Verwaltung und der Kultur.
(2) Zulässig sind …..
6. Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie für Betriebsinhaber und Betriebsleiter,
7. sonstige Wohnungen nach Maßgabe von Festsetzungen des Bebauungsplans.
(3) Ausnahmsweise können zugelassen werden ….
2. Wohnungen, die nicht unter Absatz 2 Nummer 6 und 7 fallen.
(4) Für Teile eines Kerngebiets kann, wenn besondere städtebauliche Gründe dies rechtfertigen (§ 9 Absatz 3 des Baugesetzbuchs), festgesetzt werden, dass
1. oberhalb eines im Bebauungsplan bestimmten Geschosses nur Wohnungen zulässig sind oder
2. in Gebäuden ein im Bebauungsplan bestimmter Anteil der zulässigen Geschossfläche oder eine bestimmte Größe der Geschossfläche für Wohnungen zu verwenden ist.
Dies gilt auch, wenn durch solche Festsetzungen dieser Teil des Kerngebiets nicht vorwiegend der Unterbringung von Handelsbetrieben sowie der zentralen Einrichtungen der Wirtschaft, der Verwaltung und der Kultur dient.“
Da im Bebauungsplan keine Regelungen bezüglich der §§ 7, Abs. 2, Ziffer 7 und Abs. 4 getroffen wurden, sind Wohnnutzungen somit nur „ausnahmsweise zulässig“, wenn dies von Eigentümern/Investoren beantragt wird.
Es ist davon auszugehen, dass die Kurfürstenstraße 75 nur der Beginn eines ‚Wohnraumvernichtungsdominos‘ im Kurfürsten-Landgrafen-Wichmann-Block sein wird.
Das Bezirksamt ist daher angehalten, alle möglichen Mittel des Bezirks zu prüfen, die den Abriss bezahlbarer Wohnungen verhindern oder zumindest erschweren könnten, so dass die Mieter*innen keine weiteren Opfer des ‚Betongolds‘ in Mitte werden.
Ein Baustein für einen solchen Versuch kann die Anwendung des Berliner Zweckentfremdungsverbot-Gesetzes bzw. der Berliner Zweckentfremdungsverbot-Verordnung für Wohngebäude sein. In Anbetracht des Spannungsverhältnisses zwischen der Anwendung des Zweckenfremdungsrechtes vor dem Hintergrund einer dem evtl. entgegenstehenden planungsrechtlichen Festsetzung, sollte daher geprüft werden, welche Möglichkeiten zur Anwendung des Berliner Zweckentfremdungsverbot-Gesetzes bzw. die Berliner Zweckentfremdungsverbot-Verordnung für abrissbedrohte Wohngebäude bestehen.
Da der Erhalt von bezahlbarem Wohnraum herausgehobene Priorität einer sozialen Wohnungspolitik sein muss, soll zur Prüfung aller Möglichkeiten externer Sachverstand einbezogen werden.
Weitere Informationen:
Die im Antrag beschriebenen Grundstücke mit Wohnbebauung – zuzüglich der angrenzenden Wichmannstraße 24 – sind aktuell wie folgt genutzt:
Grundstück | Bekannte aktuelle Nutzung nach Augenschein | derzeit Anzahl Wohnungen | Bekannte Planung |
Kurfürstenstraße 75 | Wohnbebauung mit gewerblichen Anteilen | 25 WE, zu großen Teilen bewohnt | Abriss und Neubau Gewerbe- und Wohnhaus |
Landgrafenstrafe 5-6 | Wohnbebauung mit gewerblichen Anteilen | ca. 27 WE nach Klingelschildern, scheinbar zu großen Teilen bewohnt | Aufstockung Wohnbebauung für Projekt „Equalizer“ |
Wichmannstraße 23 | Wohnbebauung mit gewerblichen Anteilen | ca. 30 WE nach Klingelschildern, scheinbar zu großen Teilen bewohnt | Abriss Wohn- und Hotelgebäude und Neubau Bürogebäude sowie Wohnaufstockung |
Wichmannstraße 24 | Wohnbebauung mit gewerblichen Anteilen | ca. 42 WE nach Klingelschildern, scheinbar zu großen Teilen bewohnt | Nicht bekannt |
Bisher bekannte Antragslage:
Grundstück | Antrag | Maßnahme |
Kurfürstenstraße 75 | Antrag Bauvorbescheid: 05.07.2023 Genehmigung Bauvorbescheid: 30.08.2023 | Errichtung - Abriss Geschäftsgebäude mit Wohnanteil und Neubau eines Bürogebäudes mit Wohnnutzung |
Landgrafenstrafe 5-6 |
| Anm.: Gehört vermutlich zur Maßnahme Wichmannstraße 23, identischer Eigentümer |
Wichmannstraße 23 | Antrag Bauvorbescheid: 23.03.2022 Genehmigung Bauvorbescheid: 13.06.2022 | Abriss Wohn- und Hotelgebäud und Neubau Bürogebäude sowie Wohnaufstockung Anm.: Eigentümer wie Landgrafenstraße 3-6 |
Wichmannstraße 24 | Nicht bekannt |
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Wie der Antragslage und den Anschreiben an die Mieter*innen zu entnehmen ist, ist der Abriss von bewohnten Wohngebäuden – entweder vollständig oder teilweise – bereits von Eigentümer*innen beabsichtigt.
Problem 1:
Da das „Wohnen“ in einem Kerngebiet nur ausnahmsweise zulässig ist, müssen Eigentümer*innen keine Wohnanteile in den Neubebauungen berücksichtigen.
Problem 2:
Vor dem Hintergrund der rechtlichen Auffassung des Bezirksamtes Mitte, dass im ‚Beschränkten Arbeitsgebiet‘ (vergl. Thematik Tegeler/Fennstraße) das Zweckentfremdungsrecht nicht anwendbar ist, da das Wohnen dort eigentlich baurechtlich nicht zulässig ist, muss aktuell davon ausgegangen werden, dass diese Rechtsauffassung auch auf Wohngebäude im ‚Kerngebiet‘ übertragbar ist (vergl. identische bzw. ähnlich lautende Regelungen BauNVO). Eigentümer*innen müssen somit beim Abriss von Wohnungen keine Ersatzwohnungen nach Zweckenfremdungsverbot-Gesetz errichten. Dem Bezirk ginge damit eine Vielzahl von Wohnraum verloren.
Zur Kurfürstenstraße 75:
Das sechsgeschossige Gebäude wurde 1972 erbaut. Im Erdgeschoss befindet sich ein Supermarkt, das 1.OG beherbergt Büroräume. Ein Großteil der Mieter*innen wohnt seit vielen Jahren, einige seit Jahrzehnten dort.
Die Eigentümer*in beabsichtigt das in großen Teilen bewohnte Gebäude mit 25 bezahlbaren Wohnungen abzureißen. Es ist zu vermuten, dass es interne Absprachen mit dem Investor der angrenzenden Grundstücke Landgrafenstrafe 3-6/Wichmannstraße 23 gibt, dass dieser das Grundstück übernehmen würde, wenn die Entmietung der Wohnungen sichergestellt ist.
Die Mieter*innen haben von ihrem Vermieter im April 2024 den ‚freundlichen Hinweis‘ bekommen, sich wegen des bevorstehenden Abrisses neue Wohnungen zu suchen. In dem Schreiben heißt es u.a. (Hinweis: Hervorhebungen vom Antragsverfasser): „Bereits seit einigen Jahren sind die Nachbargrundstücke der Kurfürstenstraße 75 Gegenstand umfangreicher baulicher Entwicklungsmaßnahmen. Von diesen Veränderungen und auch Einschränkungen sind Sie als Mieter, aber wir auch als Vermieter betroffen. Als Eigentümer der Kurfürstenstraße 75 mussten wir nunmehr erkennen, dass der rasche und umfangreiche Fortgang der Baumaßnahmen in unserer Nachbarschaft dazu führt, dass sich unser Gebäude langfristig nicht mehr in die Umgebung eingliedert und auch Nachteile für die Mieter zu befürchten sind.
Der Verlust der Wohnraumqualität geht mit einer deutlichen Entwertung unseres Grundstücks einher, wenn wir an dem Bestand des Gebäudes festhalten und uns nicht der baulichen Entwicklung anschließen. Wir haben uns daher entschlossen, es unseren Nachbarn gleich zu tun und unser Grundstück ebenfalls baulich zu entwickeln zu lassen.
Durch die Neubebauung sollen bezahlbare Wohnungen in der Mitte der Stadt entstehen, die jedoch den heutigen Wohnwertverhältnissen entsprechen. Wir werden selbst diese Baumaßnahmen nicht veranlassen, sondern haben uns mit einem Investor, DIE Deutsche Immobilien und Entwicklungs AG, zusammengeschlossen, der bereits das benachbarte Grundstück der Landgrafenstraße entwickelt. Da eine Sanierung im Bestand jedoch diesem Ziel insbesondere der Nachhaltigkeit der Wohnungen nicht gerecht werden kann, wird das Gebäude abgerissen und ein neues Wohn- und Geschäftsgebäude errichtet.“
Kurz darauf meldete sich dann eine „LxS Immobilien GmbH“, die als Dienstleister der Investoren anbot die Optionen für den Auszug zu besprechen. Im Ergebnis haben sich einige Mieter*innen aus Angst vor dem drohenden Wohnungsverlust bereits ‚rauskaufen‘ lassen. Weder gab es Angebote für Ersatzwohnungen noch ist davon auszugehen, dass es in Zukunft Angebote für bezahlbaren Wohnraum im Umfeld geben wird.